Ute Stuffer im Dialog mit Esther Seidel 7.4.2021
UTE STUFFER:
”Menschsein heißt Leben mit Stoff", mit diesen Worten brachte Beverly Gordon unsere lebenslange Verbindung mit dem Textilen auf den Punkt. Sie reicht buchstäblich von den Windeln zu Beginn unseres Lebens über die Kleidung als Schutzfunktion – mit der wir zugleich unser persönliches und kulturelles Verständnis zum Ausdruck bringen – bis zum Leichentuch oder anderen Stoffen, die unseren toten Körper bedecken. Körper und Stoff sind kulturgeschichtlich von Beginn des Lebens miteinander verbunden.
In Deinem, für viele Dekaden figürlich bildhauerisch geprägten Werk, hat das Textile als Medium seit 2000 eine entscheidende Rolle eingenommen. Vorab ganz allgemein, was fasziniert Dich am Medium Textil?
ESTHER SEIDEL:
Deine Frage ist so direkt und klar, und ich würde gerne genauso darauf antworten. Trotzdem überrumpelt sie mich fast. Vielleicht weil man etwas, das so selbstverständlich immer schon da war, gar nicht in sich erforscht oder hinterfragt?
Die Faszination und Liebe zum Textilen war seit ich denken kann immer da!
Schon als kleines Mädchen gehörte zu meinen Lieblingsspielen die Kleiderkiste, "lange Kleider spielen", das sich verkleiden, verhüllen, die Schutzmantelmadonna spielen oder sein, die die kleinen Geschwister unter ihre Fittiche nimmt, mit Schleier und viel Stoff.
Später als Jugendliche lernte ich begeistert Wolle spinnen, und stickte alle "wichtigen Briefe" auf Papier. Worte aus Fäden, Seide und feinster Wolle, auf Karton, Bütten - und Packpapier. Das wirkte wie ein feines Gewebe.
Mutter schneiderte uns Kleider, und mein Bruder nähte sich jahrelang alles selbst.
Mich außergewöhnlich zu kleiden, mit langen Gewändern, Umhängen, einem tunesischen Burnus, einem nachtblauen Cape mit Kapuze, war mir wichtig, eine Notwendigkeit.
Auch in vielen meiner Skulpturen in Bronze, Stein oder Terracotta findet sich das Gewebe, die Textur der Stoffe wieder, entweder eingraviert in die Oberfläche des Steins, oder ich drückte beim Modellieren verschiedene grobe und feine Textilien auf die noch weiche "Haut" der Arbeit in Ton, damit der Stoff als Element sichtbar wurde.
Das Zitat von Beverly Gordon mit dem du unseren Dialog einleitest, "Menschsein heißt Leben mit Stoff " ist wunderbar und schließt tatsächlich ein riesiges Gebiet in Zeit und Raum ein. Es bestätigt meine Reflexionen in Bezug auf mein verwoben sein mit Stoff seit Kindertagen, und die ständige, intensive Entwicklung der textilen Arbeiten je weiter ich im Leben gehe.
Zu nahezu jeder meiner Arbeiten finden sich Bezüge in meiner Kindheit. Der Bezug zum Textilen ist wirklich tief und seit jeher in mir verwurzelt und mit mir gewachsen, und ist letztendlich zu DEM Medium meiner Kunst geworden.
Das künstlerische Arbeiten geht oft eigene Wege, es ist intuitiv und instinktiv. Man ist im intensiven Zwiegespräch mit der eigenen Kunst, es ist wie ein organisches Gebilde, eigenen Gesetzen unterworfen, eine Symbiose, du und deine Arbeit.
Wenn ich Stoffe berühre, seien es antike handgewebte oder moderne Textilien, oder sie abgebildet sehe, manchmal sogar nur wenn ich das Wort ´Stoff´ in einem Buch lese, löst das eine starke Emotion in mir aus.
Seien es die "textilartigen" riesigen Wandbehänge des afrikanischen Künstlers El Anatsui, die Jaquard gewobenen Teppiche von Kiki Smith, die mit Maschine genähten Stoffbuchseiten oder Weltkarten von Maria Lai, die poetisch, tragischen Stoffarbeiten von Tracy Emin, die weinenden Stickbilder von Riccardo Vezzoli , die gigantischen Verhüllungen ganzer Gebäude in Jutesäcke des 1987 geborenen Ibrahim Mahama, die Arbeiten der hoch interessanten türkischen Textilkünstlerin Günes Terkol oder die Haarbilder der in Beirut geborenen Mona Hatoum, all diese Werke rühren mich tief an, als seien deren Fäden mit meinem Inneren verwoben.
Kiki Smith sagte kürzlich in einem Interview: "The main thing is, that you follow your work and follow it as truthful as you can. Even if it brings you into ditches, but rather than holding the idea of how you want it, rather than to manipulate your life to be in a particular way, let your life just unfold yourself.”
UTE STUFFER:
Zunächst möchte ich auf Deine 9-teilige fotografische Serie Mantling (2017) eingehen, da sie in meinen Augen wesentliche Punkte Deines Werks vereint. Im Mittelpunkt jeder Fotografie steht der verhüllte menschliche Körper, der eine skulpturale Präsenz und einen innigen Dialog zum Außenraum entfaltet. Welche Rolle spielt die Materialeigenschaft der Stoffe, ist sie Beginn und Stimulanz der jeweiligen Arbeit? In welchem Moment ist das Zusammenspiel von Körper, Stoff und Umgebung im fotografischen Raum für Dich stimmig? Gibt es religiöse Bezüge? Und wann wurde in Deinem Werk das Medium Fotografie relevant?
ESTHER SEIDEL:
Deine Frage zur Mantling Serie gefällt mir sehr. Ich arbeite seit 2017 immer wieder an den ‘Verhüllungen‘, sie nehmen mehr und mehr Raum in meiner Projektwelt ein.
Jeder meiner Stoffe inspiriert mich tatsächlich auf seine Weise. Farbe, Dichte und Textur lassen mich den Ort finden, in welchen ich mich einfüge. Ich schlüpfe unter den Stoff und jedes Mal fühlt es sich so an als würde ich unsichtbar, verwoben mit der Natur.
Das intensive Wahrnehmen der Atmung unter den teilweise schweren Textilien, die sofortige Verstärkung aller Geräusche, die Dunkelheit mit vereinzelten Lichteinbrüchen sind zu vergleichen mit dem Eintauchen unter Wasser, ohne die Luft anhalten zu müssen.
Es ist eine körperliche Erfahrung, es geht um die innige Verbundenheit mit der Natur und um meine Spiritualität.
Eines meiner grundlegenden künstlerischen Themen ist INNEN=AUSSEN. Ich suche beständig nach diesem Zusammenhang.
In diesem Arbeitszyklus werde ich unter dem Material Stoff tatsächlich zur lebendigen Skulptur, bin nicht mehr Schöpferin, sondern selbst Kunstwerk, intensiv mit mir selbst und der Welt um mich verbunden. Und in der Fotografie festgehalten, kann ich mich wiederum selbst von außen betrachten.
Patrick fotografiert mich. Seit 36 Jahren begleiten wir einander, die Rollen waren verschiedene, erst Studienkollegen, dann Liebespaar, nach 17 Jahren Eltern unseres Sohnes, dann getrennt, aber immer beste Freunde und gleichbleibend einander bei unserer Arbeit bereichernd.
Du fragst nach religiösen Bezügen.
Glaube, Vertrauen, Liebe, Gebet sind Worte die sich die Religionen einverleibt haben, sie sind für viele Menschen, mich selbst inbegriffen, wenn nicht sogar negativ belastet, so doch irgendwie schwierig.
Ich selbst bin vor Jahren aus der Kirche ausgetreten, trotz oder vielleicht gerade wegen der von meiner tief religiösen Mutter sehr ernst genommenen katholischen Erziehung.
Aber ich taste mich an die Worte heran, kaue auf ihnen herum, denn ich GLAUBE, zwar nicht an Gott, aber an mich selbst, an das Vertrauen und die Liebe, die mir niemand außer ich selbst geben kann.
Das will ich umsetzten, meine Arbeiten drücken genau das aus.
Verhüllt, stillstehend, atmend, die nackten Füße auf der Erdkruste als wäre ich aus ihr herausgewachsen, ist das eine religiöse Erfahrung, oder eine spirituelle oder eine sinnliche, oder einfach das was Ich gerade machen muss?
Noch eines meiner Lieblingszitate von Kiki Smith:
“My work does what it does, and I just try to follow it. I would love to be a much better artist but you are just who you are and you are given what you are given. And the next person is given what they are given.”
UTE STUFFER:
Das Stoffliche hat über die textile Arbeitsweise des Stickens Eingang in Dein Werk gefunden. Lange Zeit haftete der textilen Arbeitsweise der Ruch des bloß kunstgewerblichen und der pejorative Unterton der weiblichen Hausarbeit an und wurde die textile Arbeitsweise weitgehend marginalisiert. Das Sticken steht für eine repetitive, langsame Tätigkeit, die eine ruhige konzentrierte Aufmerksamkeit fordert. Welche Qualitäten bietet Dir die Technik des Stickens?
ESTHER SEIDEL:
Ja, du hast Recht, zuerst entdeckte ich das Sticken für mich, und erst danach wurde ich immer mehr zur Textilkünstlerin.
Mein künstlerischer Werdegang geht, wie schon gesagt, seit jeher Hand in Hand mit meiner Biographie.
Nach 17 Jahren zusammenleben und arbeiten mit Patrick, nach unzähligen gemeinsamen Ausstellungen und Projekten, kam wie gesagt im Jahr 2000 unser Sohn Vinzent zur Welt.
Nur wenig später zerbrach unsere Ehe und Patrick verließ uns, trotzdem blieben wir enge Freunde.
Aber mein Leben veränderte sich durch den Verlust meines jahrelangen Vertrauten und die völlig neue Situation des Mutter-Seins von Grund auf.
Es war unmöglich geworden, stundenlang im staubigen und ungeheizten Atelier zu arbeiten, mit Ton oder Gips ständig dreckige Hände zu haben. Ich musste mir etwas anders überlegen, um weiter künstlerisch arbeiten zu können und gleichzeitig Vinzent bei mir zu haben, für ihn da zu sein.
Denn das wollte ich! Ich genoss es, Mutter zu sein, von Anfang an bis heute, 21 Jahre später. Aber auf keinen Fall wollte ich aufhören, meine Kunst zu machen.
Ich begann mich zu fotografieren, es entstanden Selbstporträts, die ich am Computer bearbeitete: Ich legte ein Raster auf die Vorlage, um dann Quadrat für Quadrat, oder Zeile für Zeile, mit Wolle auszusticken.
So erfand ich mein "mobiles Atelier", denn die Stickarbeiten konnte ich überall hin mitnehmen. Am Anfang auf lange Spaziergänge am Meer, und sobald Vinzent eingeschlafen war wurde gearbeitet. Später dann auf Kindergeburtstage, zu Zahnarztbesuchen, zum Hip- Hop, Fußball und Aikodo Training, in Fotografie- und Theaterkurse ... rein in meinem zum Arbeitsraum ausgerüsteten Bus, runter ins Tal, Vinzent steigt aus, Stickzeug raus ... und danach wieder hoch in die toskanischen Hügel.
Das Sticken ist wunderbar langsam, meditativ, und die sich wiederholenden Gesten des Setzens und Führens von Nadel und Faden entspricht mir so sehr, dass dieser Arbeitsprozess aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken ist. Parallel zu den großen Arbeiten die zu Hause entstehen habe ich immer ein Stück Stoff in Bearbeitung das ich überall hin mitnehmen kann.
Die Qualität des Stickens liegt tatsächlich darin, dass ich immer und überall mit meiner Arbeit verbunden bin. Am Anfang als Vinzent klein war und sehr viel Zuwendung im Alltäglichen brauchte, wie alle Kinder, war das Gefühl nicht "nur" Mutter, sondern weiterhin Künstlerin zu sein, sehr wichtig für mich, und das Sticken zog meine Gedanken konzentriert in meine Arbeit hinein.
Es stimmt, dass die Arbeit mit Textilien und vielleicht besonders das Sticken lange in die Handarbeitsecke gedrängt wurde. Aber wenn man bedenkt, dass Anni Albers 1899 geboren wurde und zu den wichtigsten Künstler:innen und Lehrer:innen des Bauhaus gehörte und seither eine der wichtigsten Textilkünstlerinnen überhaupt ist, und dass es unzählig viele berühmte Künstler:innen wie Magdalena Abakanowicz, Sheila Hicks, Alighiero Boetti, Maria Lai gibt, die alle in den 1930iger Jahren geboren wurden und sagenhafte Werke aus Stoff hergestellt haben, dann darf man dem textilen Schaffen von Künstler:innen ohne Zögern einen richtig großen Stellenwert einräumen.
UTE STUFFER:
Seit 2003 ist das Selbstporträt als selbstreflexive Kunstform immer wieder Ausdrucksform in Deinem Werk. Die Stickbilder mit Nahsicht Deines Gesichts mit zumeist geschlossenen Augen wurden abgelöst durch figürliche Selbstbildnisse, in denen Dein Körper von ausladenden Stoffen ummantelt ist. Diese Materialcollagen aus Fotografie, Stoff, Stickerei und Holz verbinden palimpsestartig mehrere Ebenen und eröffnen allegorische, christliche und kosmologische Bezüge. Kannst Du näher auf die verschiedenen Referenzen und Materialien in Deiner großformatigen Arbeit CONNECTING (2019-2020) eingehen und die Rolle des Selbst spezifizieren?
ESTHER SEIDEL:
Wie erwähnt änderte sich im Jahr 2000, mit Vinzents Geburt und dem neuen Abschnitt Ohne-Mann-aber-mit-Kind-sein mein gesamtes Leben. Und somit veränderte sich sowohl die Arbeitsweise, als auch das Material als der Ausdruck meiner Arbeiten.
Auch der Schaffensort änderte sich so mit dem Fortlauf der Jahre, die großen Textilwerke entstehen in meinem Haus, auf dem Boden. Ich lege alle Stoffe aus, füge hinzu, nehme weg, suche nach den passenden Material - und Farbübereinstimmungen, der Prozess des Komponierens gleicht der Herstellung eine Collage. Dann wird Schicht um Schicht vernäht und aufgenäht.
Die aufwendigen Selbstporträts sind alle handgestickt, in meiner Arbeit CONNECTING wieder im Rasterverfahren, Quadrat um Quadrat. Die Kontinente und das Kleid sind aus Hanffaser, antike Blumen formen den Erdkreis, die Stoffe und Sterne sind aus verschiedensten Stoffen, die ich ständig suche und finde, zusammengestellt.
Wichtig ist mir zudem die Rückseite meiner Arbeiten: Sie sollen auch frei im Raum hängen können, nicht nur an der Wand. Jedes Detail ist wichtig und wird mit großer Aufmerksamkeit bedacht.
Ich habe ein Jahr lang an CONNECTING gestickt, nicht ausschließlich, denn ich habe immer mehrere Projekte in Bearbeitung, aber ich habe 2019 begonnen und im März 2020 genau vor dem ersten großen Lockdown in Italien war die Arbeit beendet.
Die inhaltliche Dimension der Arbeit möchte ich versuchen, etwa so zu fassen: Fragen ‘Wer bin ich‘ und ‘Wo stehe ich‘ wurden in meinem Leben und durch seinen Verlauf immer dringlicher... jetzt Mutter, Künstlerin und Frau, anders als vorher, Künstlerin, Frau und Gefährtin... Ich wollte mich selbst genau betrachten, und die geschlossenen Augen waren seit jeher mein Blick nach Innen, die Konzentration und Vernetzung mit mir Selbst.
Die grundsätzliche Erkenntnis, die sich im Laufe der fast 20 Jahre des Arbeitens unter diesen Voraussetzungen immer weiter in mir ausgebreitet und verdichtet hat, und die zu einem festen Bestandteil meines Lebens wurde, will ich durch ein Zitat von Albert Einstein hier einfügen:
“Der Mensch ist ein Teil des Ganzen, das wir ‘Universum’ nennen, ein in Raum und Zeit begrenzter Teil. Er erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als getrennt von allen anderen - eine Art optischer Täuschung des Bewusstseins. Diese Täuschung ist wie ein Gefängnis, das uns auf unsere eigenen Vorlieben und auf die Zuneigung zu wenigen Menschen beschränkt, die uns nahestehen. Unsere eigentliche Aufgabe besteht darin, uns aus diesem Gefängnis zu befreien, indem wir unser Mitgefühl und unsere Fürsorge auf alle Wesen und die Natur in ihrer ganzen Schönheit gleichermaßen ausdehnen. Auch wenn uns das nicht vollständig gelingt, so ist doch bereits das Streben nach diesem Ziel ein Teil der Befreiung und die Grundlage für das Erlangen inneren Gleichgewichtes.”
Ich habe sehr viel durch Verlust, Schmerz, durch Vinzents Geburt, Liebe, Fürsorge, Freundschaft, Einsamkeit, Glück, Vertrauen, Nachsicht, Trauer, Verzeihen und Loslassen gelernt, wie wir Alle, und natürlich habe ich nach meinem Gleichgewicht gesucht, und je mehr ich das in mir fand desto augenscheinlicher haben sich die Arbeiten verändert.
Stellvertretend für alle Frauen, die Beschützerinnen, die Allesumarmenden, die Trostspendenden, Hoffnunggebenden, die Mütter, Geliebten, Freundinnen, stelle ich mich in meiner Arbeit CONNECTING, den Blick ins Universum gerichtet, die Welt als mein Gewand dar.
Es geht um den Glauben an mich selbst, an die Kraft in mir, um meine Verantwortung als Mensch.
Meine Hände beten nichts " Höheres" an, sondern schließen sich um mein Innerstes, um den Ursprung jeden Gedankens der in mir wächst. Innen ist gleich außen, das heißt, in mir gibt es jede Antwort.
ALL THE ANSWERS ARE INSIDE.
Mein Bruder Matthias stellt mich vor
Esther Seidel (8.2.1964) studierte Bildhauerei an der Accademia di Belle Arti di Carrara und lebt seither in Italien.
Ihre künstlerische Herkunft ist die figurative Skulptur, der sie sich als Steinbildhauerin und Plastikerin widmet. Schon in ihrem Studium ist der menschliche Körper ihr Hauptthema. Ihr zentrales Interesse dabei ist die Wechselwirkung von Innen und Außen einer Person, von Körperform und Gestalt.
Aus der Bildhauerei erwächst ihr starker Bezug zu den Materialien und deren spezifischer Qualitäten: Die Steinbildhauerei aus Marmor, die Plastik in Terrakotta, der Bronzeguss mit seinen vielen Zwischenstadien in Wachs, Gips, Silikon, gebrannter Erde und schließlich der Bronze und ihrer Nachbearbeitung prägen die manuellen und formgebenden Fertigkeiten der Künstlerin.
Seit den 1990er Jahren gestaltet Esther Seidel zahlreiche öffentliche Räume mit Gruppen von Bronzeskulpturen. Diese zeichnen sich durch die realistische Darstellung zeitgenössischer Menschen aus. Als lebensgroße Figuren sind sie mit allen Attributen des alltäglichen Äußeren, insbesondere aktueller Bekleidung, dargestellt. Da sie immer direkt auf der Ebene der Fußgänger platziert sind, treten sie in einen unmittelbaren visuellen und haptischen Dialog mit den Betrachtenden.
Beginnend etwa um das Jahr 2000 stellt sie ihren plastischen Arbeiten textile Stickbilder gegenüber. In diesen Porträts führt sie ihre dargestellten Personen aus der plastischen Körperlichkeit in zweidimensionale Bilder zurück. Dafür löst sie zuerst deren Abbild durch grafische Rasterung auf, überträgt dies auf ein Gewebe und verdichtet sie anschließend wieder durch das Sticken mit Wollfäden. Dieses textile Moment steht in einer Wechselwirkung mit klein- und mittelformatigen Plastiken dieser Zeit, in denen sie zunehmend die Bekleidungen der Figuren mit echten Stoffen ausformt. Die Bekleidung als zweite Haut der Menschen, und als eigene Gestaltungsmerkmale der Individuen, löst sich von der Plastik und wird so zum eigenständigen Thema. So bedeutet seither ihr bildhauerisches Arbeiten zum einen das Formen von Menschen als individuelle Körper, andererseits auch deren Einhüllen mit Textilien, die den äußeren Schutz der Personen leisten.
Der Fokus auf textile Kunst verstärkt sich in den folgenden Jahren. Insbesondere die Materialqualitäten der Stoffe, ihre taktilen und farblichen Eigenschaften sowie ihre Verarbeitung und Zusammenfügung interessieren Esther Seidel zunehmend. Dies führt seit Mitte der 2010er Jahre teils so weit, dass sich der physische Körper, abgesehen von der Büste, ganz und gar im Textilen auflöst und die Figuren überlebensgroß werden können.
Inhaltlich verstärkt sich in der Folge ihre Suche nach Ausdruck der Dualität individueller, innere Welten einerseits, sowie, im Gegenüber dazu, nach den universellen Sinnfragen des Seins. In ihren Arbeiten transzendiert sie, vor dem Hintergrund biografisch-persönlicher Fragen, ihr eigenes inneres Erleben auf den allumfassenden äußeren Kosmos. Es geht ihr dabei insbesondere um das Phänomen universeller Liebe sowie den Schutz der Menschen und ihrer Existenz durch kosmische Kräfte. Als Verbildlichung dessen stellt sie konsequent ihr eigene Ich-Beziehung in den Fokus, stellt sich als Personifizierung einer Madonnenfigur im Kosmos dar, stellvertretend und als Symbol der Schlüsselposition, die jedes Individuums zwischen physisch-irdischer Existenz und transzendental-metaphysischer Welt einnimmt. Insgesamt nimmt sie des Weiteren zur Darstellung dieses Zusammenhangs Bezug auf vielfältige religiöse Symbole und verarbeitet zum Teil textile Fundstücke liturgischer Herkunft. Es entstehen großformatige textile Bilder, als Collagen und Assemblagen, mit Motiven, die vielfältige Assoziationen zur traditionell-religiösen Kunst erlauben und doch völlig neuartige, handwerklich wie symbolisch hochwertige Kunstwerke sind.
Das Konzept INNEN = AUSSEN
Die Erfahrung einer zu vollen Welt, von Innenräumen, die zu sehr vom Sinnlosen und Banalen eingerichtet sind, ist typisch für den Mann und die Frau des 20. und 21. Jahrhunderts. Es war Walter Benjamin, der vom "möblierten Menschen" sprach, um die Kolonisierung des inneren Raums durch Objekte und Bilder zu verstehen, die buchstäblich keinen Raum zum Nachdenken, zum Alleinsein, zum Denken ließen. Der innere Raum ist so sehr von irrellierenden "Dingen" kolonisiert, dass es uns schwer fällt, einen Moment für jene durchdringende und tiefe Einsamkeit zu finden, aus der künstlerische Inspiration oder philosophische Intuition geboren wird; selbst wenn wir allein sind, durchdringt uns die Welt, nicht mit dem legitimen Bedürfnis nach Sozialität und Sozialisierung (so sind wir nie ganz allein, weil sich die ganze Welt in uns spiegelt), sondern mit einer schwerfälligen und unerwünschten Präsenz. Wir werden von der Welt bewohnt, und das macht es uns schwer, sie in einem richtigen und vollständigen Sinn zu bewohnen.
Wir brauchen also eine Pädagogik der leeren Räume als vorbereitende Operation einer Seelenerziehung; wir brauchen die zu schulenden Subjekte, damit sie in sich selbst das schaffen, was wir weiße Löcher nennen, d.h. Fragmente der Innerlichkeit, die wir vor der Belagerung retten, Rechtecke der Bedeutung und des Selbst, die wir der Diktatur einer Welt entziehen, die uns im Inneren ausstattet. Wenn wir uns jedoch dazu erziehen müssen, unsere eigenen weißen Löcher zu schaffen, dann ist es wahr, dass es kein weißes Loch in uns gibt, wenn es draußen keine Räume und Zeiten der Loslösung gibt. Durch die Suche nach oder die Schaffung von weißen Löchern im Alltag und in der Lebens- und Arbeitsumgebung können die Voraussetzungen für eine innere spirituelle Leere geschaffen werden.
Das Konzept des Innen/Außen der Seele ist der rote Faden aller künstlerischen Forschungen Esther Seidels, das Außen der Seele können wir als die Erscheinungen der Alltagswelt identifizieren, in die der zeitgenössische Mann und die zeitgenössische Frau eintauchen und zum privilegierten Thema der Skulpturen und Stickereien der Künstlerin werden: die Menschen unserer Zeit, wir, ihr selbst, betrachtet in der Beziehung zur Existenzbedingung, zum bewohnbaren Raum, zur Beziehung, aber noch mehr, oder noch besser, zum inneren Raum, zum psychischen, zum intimen pulsierenden ànemos, dem Inneren der Seele, das in den Körper drängt, seine expressive Oberfläche ausdehnt, die Zeit der Handlung diktiert, den reflexiven Stillstand, die Dynamik, die Geste. Eine einzige existentielle Sphäre, die mit dem Inneren und dem Äußeren im Dialog steht und die dank des bearbeiteten und von den Bedürfnissen des Künstlers verwendeten Materials im Raum realisiert wird.
Esther Seidel wurde aus der klassischen Bildhauerei geboren, die sie an der Akademie der Bildenden Künste in Carrara erlernte, einer schweren und langsamen Technik, die ihr Leben und ihren Körper völlig in Beschlag nahm. Während und unmittelbar nach ihrer Schwangerschaft entdeckte sie die Faszination der Fotografie und den Gebrauch des Computers wieder und sammelte die Fäden ihres Lebens, wobei sie auf Wolle, Stoff und Seide traf. Der Wunsch, diese weibliche Arbeit auszuführen, erlaubte es ihr, ihrem Kind immer nahe zu sein und jene Freiheit wiederzuentdecken, die das Experimentieren ihrer künstlerischen Forschung anregte. Aus dieser Vereinigung werden Skulptur und Stickerei, Stein und Stoff, Bronze und Wolle, Visionen, die Esther zu ihren Anfängen in der Bildhauerei zurückführten und ihr erlaubten, ihre Emotionen in der Kunst auf eine neue Art und Weise auszudrücken. So stehen ihre verschiedenen künstlerischen Haltungen im Dialog miteinander und bilden ein einziges großes Gesamtkunstwerk, das das Werk eines Teils ihres Lebens umfasst.
Seidels Skulptur warnt und vermittelt mit außerordentlicher Unmittelbarkeit vor der drohenden Verkleinerung des Lebensraums und der Kontraktion des psychologischen Raums, und zwar nicht nur in ihren verzerrtesten und schmerzhaftesten Wendungen, sondern in einer wirklich überraschenden Vielfalt von Situationen, von Standpunkten (und Zuhörern), die nun die Materie, die Auferlegung der Körperlichkeit, der Körperlichkeit als Architektur im Raum erheben, Jetzt erzwingt die kommunikative Spannung in stark expressionistischen Scans oder sogar in intensiven neobarocken Bewegungen die Artikulation einer Geste, die den Raum/die Umgebung aktiviert, jetzt ein Licht, das einzugreifen scheint, um zu gehen, zu glätten, die Oberflächen zu verjüngen, die Masse, das Gewicht, die "Rüstung" zu reduzieren und die Wahrnehmung immer expliziter auf den "Kern", den innersten, geheimen Kern, das Innere der Seele zu lenken.
In ihren heutigen Werken entdeckt die Künstlerin die für die Bildhauerei typische Langsamkeit wieder, die sie so sehr liebte, aber nicht mehr die Schwere, die ihr vor allem die großen Dimensionen aufgrund der privaten Aufträge gaben, die die Grundlage ihrer Arbeit waren. Die Wiederholung der Geste mit Nadel und Faden, so bescheiden, aber gleichzeitig tiefgründig und meditativ, wurde zu ihrem Band der emotionalen Kommunikation, um die verschiedenen Techniken in einem einzigen Ausdruck, der aus der Erfahrung Gestalt annimmt, zum Leben zu erwecken.
Die Idee, im Rahmen der Ausstellung ein Video vorzuschlagen, entspringt dem ständigen Wunsch von Esther Seidel, neue Techniken und Technologien auszuprobieren und insbesondere ihr Privatleben (das Innere der Seele) in das einzufügen, was dank der Kunst zu einem öffentlichen Raum wird, in dem sie sich zeigen kann. Das Video mit dem Titel "Autor de la lune" ist eine Synthese dessen, was zuvor gesagt wurde: Die Skulptur mit der Zeit lässt Raum für die Fotografie, aus der die Stickerei geboren wird, die Stickerei kehrt zur Skulptur zurück und bildet eine Synthese ihrer künstlerischen Forschung oder besser gesagt ihres "Kunstmachens". All dies wird dem Betrachter der Ausstellung dank des Videos gezeigt, das zur "Summe" aller Techniken in einem wird, den Schritten, die dazu geführt haben, heute im ortsspezifischen Projekt für das Grüne Haus der Fondazione La Versiliana das gesamte Werk des Künstlers zu sehen.
Alle Rechte vorbehalten Esther Seidel
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